Vor einigen Jahren hatte ich die Aufgabe, das Warenwirtschaftssystem einer großen deutschen Supermarktkette zu analysieren. Das System war über Jahrzehnte gewachsen – geschrieben in Gupta, einem heute kaum noch verbreiteten Entwicklungssystem. Eine einzelne Datei umfasste über 300.000 Zeilen Quellcode. Keine Module. Keine Dokumentation. Keine klaren Verantwortlichkeiten.

Niemand wusste mehr genau, was das Programm tat, warum es so funktionierte – oder was passiert, wenn man auch nur eine Kleinigkeit änderte.

Was folgte, war keine Optimierung, sondern eine komplette Neuimplementierung. Ein mehrjähriges Projekt mit enormem Ressourcenaufwand – technisch, wirtschaftlich und menschlich.

Für mich war das ein Wendepunkt. Denn dieses Beispiel zeigt, dass Nachhaltigkeit in der IT nicht mit Energiemessungen beginnt – sondern mit Bewusstsein und Verantwortung.

Green Agile beginnt bei den Werten

Im Green Agile Guide sprechen wir oft über nachhaltige Praktiken: Impact Transparency, Green Product Backlog, ökologische Architekturentscheidungen. Doch all diese Methoden bleiben wirkungslos, wenn sie nicht auf einem fundamentalen Werteverständnis beruhen.

Deshalb haben wir zwei Leitbegriffe in den Mittelpunkt gestellt:

Bewusstsein

  • Wahrnehmen, was Software wirklich bewirkt – technisch, ökologisch, sozial
  • Den Mut haben, blinde Flecken im Team oder in Prozessen zu benennen
  • Systeme im Kontext sehen: Wer nutzt sie? Was brauchen sie wirklich? Welche Kosten entstehen in 2, 5 oder 10 Jahren?

Bewusstsein bedeutet, nicht nur lokal zu optimieren, sondern global zu reflektieren.

Verantwortung

  • Entscheidungen treffen, auch wenn sie unbequem oder kurzfristig teurer sind
  • Technische Schulden benennen – und nicht einfach ignorieren
  • Die langfristige Wartbarkeit eines Systems ernst nehmen
  • Nachhaltigkeit nicht delegieren, sondern als Teil der eigenen Rolle begreifen

Verantwortung bedeutet, auch dann zu handeln, wenn niemand zusieht.

Warum das mehr als Technik ist

Viele Unternehmen investieren heute in Nachhaltigkeitsinitiativen – von Green Coding bis CO₂-Kompensation. Das ist wichtig. Aber ohne verinnerlichte Werte bleibt es oft bei Symbolik.

Nachhaltigkeit braucht eine Kultur, in der Menschen sagen:

„Ich verstehe, was ich tue. Und ich stehe für die Wirkung meiner Arbeit ein.“

Genau hier setzt Green Agile an. Es geht nicht um neue Rollen oder Checklisten. Es geht darum, eine neue Haltung in bestehende Prozesse zu bringen.

Was kannst du tun?

Einige Fragen, die du dir oder deinem Team stellen kannst:

  • Wo in unserem System fehlt uns Transparenz – technisch oder organisatorisch?
  • Wer trägt Verantwortung – nicht nur formal, sondern real?
  • Welche Entscheidungen würden wir anders treffen, wenn wir langfristiger denken würden?

Ausblick

In den kommenden Wochen werde ich in einer kleinen Blog-Serie weitere Bausteine des Green Agile Guide vorstellen: von konkreten Praktiken über Rollenbilder bis hin zu Metriken. Wenn du Interesse hast, mitzudenken oder den Guide in deiner Organisation zu erproben, melde dich gerne.

Gemeinsam können wir zeigen: Nachhaltige Software entsteht nicht durch Zufall. Sondern durch Menschen mit Bewusstsein und Verantwortung.